Sie nimmt den weißen Mantel vom Kleiderhacken und zieht ihn über die Kleidung, mit der sie gekommen war – ein T-Shirt, in einer Farbe, als ob es durch den Schlamm gezogen worden wäre und Blue-Jeans, die seit Monaten auf eine Wäsche warten. „Knitterfalten“, brummt sie und streicht mit Druck über die Ärmel des weißen Mantels. Sie atmet tief ein und öffnet die Türe in den Gang, den sie mit erhobener Brust durchschreitet. Der weiße Mantel weht im Luftzug, der beim Gehen entsteht und lässt die ohnehin 1,80 m große Frau dadurch zum Blickfang werden. Sie selbst sieht geradeaus. Auf dem Weg zu ihrem Ordinationszimmer ist sie noch nie bei der Fotocollage mit allen MitarbeiterInnen stehengeblieben. Von ihr selbst gibt es kein Foto dabei. Sie ist erst seit einem Monat hier. Noch nie ist sie beim Kaffeekammerl eingebogen und hat dort in der Küche mit dem Pflegepersonal einen Kaffee getrunken. Sie zieht immer einen Kaffee aus dem Automaten, der vor ihrem Zimmer steht.
„Guten Morgen, Frau Doktor.“ Ihre eigenen Gedanken, die nach einem Gehaltsbonus schreien, sind so laut, dass sie die Begrüßung von Frau Ortner, der seit 10 Jahren hier beschäftigten Reinigungskraft nicht hört.
Sie betritt ihren Ordinationsraum. Auf ihrem Schreibtisch hat die neue Küchenhilfe Margarethe ihr ein Frühstück hingestellt. Sie prüft die Härte der Semmel, indem sie mit ihr auf den Tisch klopft. Sie wirft sie zurück auf das Tablett des Gratisfrühstücks.
„Ich habe den Dienst Schwester Marianne übergeben. Ich gehe jetzt.“, Schwester Bernadette, schaut mit dunklen Augenringen bei der Türe herein und geht wieder.
Die Ärztin schaltet den Computer ein und prüft, ob ihr Gehaltszettel schon da ist und öffnet die erste Patientenakte. Nachdem sie Patient Nummer eins des heutigen Tages durchgewunken hat, wählt sie Nummer der Personalabteilung und fragt, wann ihr Gehalt am Konto sein wird.
Das Himmelblau schiebt ein paar Wolken zur Seite und blinzelt auf den Retzhof herab.
„Ich bin alt.“, hört er die alte Platane, die im Innenhof des Schlosses seit 200 Jahren verwurzelt ist, jammern.
„Halt die Klappe!“, ächzt die dickere Platane, die draußen im Garten ihren Stammbaum samt Wurzelvorfahren bis hin zu den Urururururururururenkelblättern aufgestellt hat. Mit den obersten Ästen wirft sie einen bösen Blick über die Schlossmauer zu ihrer unzufriedenen Nachbarin.
„Ich bin 300 Jahre alt und stehe so gut hier wie nie zu vor.“
„Aber du hast genug Platz für deine Wurzeln. Um mich herum ist alles gepflastert. Um dich schmiegt sich eine schöne Rasendecke.“
„Papperlapapp, alles nur Ausrede. Du hast einen ordentlichen Stamm, der Frühling schenkt auch dir jedes Jahr neue Blätter und im Innenhof bist du vor Wind geschützt.“
„Da hat sie Recht.“, denkt sich das Himmelblau und lauscht weiter zu.
„Jaaaaaaaaa“, raunzt der Baum „aber um mich ist immer so ein Wirbel. Im Winter gibt es einen Adventmarkt, im Sommer sind abends Veranstaltungen und tagsüber laufen die Kinder um mich herum. Ich bin zu alt für so etwas.“
„Ist doch schön, wenn was los ist.“
„Ich weiß nicht, ich hätte es lieber ruhiger …“
Die Platane im Garten holt ihre letzten Äste, die sie über die Schlossmauer geschickt hat, zurück und denkt sich nur: „Gut, dass die Mauer dazwischen ist, die würde ich nicht jeden Tag aushalten …“